Schmetterlingsprojekt
Kontoinhaber: Zeltschule e.V.
IBAN: DE44 7015 0000 1004 3195 29
BIC: SSKMDEMMXXX
Verwendungszweck: Schmetterlingsprojekt
Wenn Flucht selbst nach Jahren in „Sicherheit“ noch diese Auswirkungen auf Körper und Seele hat, wie geht es dann wohl den Menschen in unseren Camps, die nie „angekommen“ sind, die in provisorischen Lagern leben, teilweise in immer noch oder wieder sehr konkreter Kriegsangst, denn in der Nähe unserer syrischen Schulen fallen regelmäßig Bomben und auch im Libanon hat der Gaza-Konflikt wieder ein sehr konkretes Kriegsrisiko geschürt. Viele unserer Geflüchteten werden durch die aktuellen Ereignisse re-traumatisiert, durchleiden wieder schlimme Angstphasen, Panikattacken, Depressionen….
Besonders schlimm erlebe ich die Entwicklung unter unseren Witwen. Viele von ihnen haben Söhne im Teenageralter, um die sie besonders viel Angst haben, sollte ein Krieg ausbrechen. Was ist, wenn sie gezwungen werden, daran teilzunehmen? Viele haben Angst davor, noch einmal eine Flucht ins Ungewisse durchmachen zu müssen, um ihre Kinder vor einem weiteren Krieg zu bewahren. Die Angst und Überforderung dieser Gedanken lähmt sie.
Wir haben deswegen beschlossen, ein Zeltschule-Projekt für Mentale Gesundheit, unser Schmetterlingsprojekt, ins Leben zu rufen, beginnend bei den Witwen unseres Women’s Workshops, aber nach und nach wollen wir es natürlich allen Bewohnern unserer Camps zugänglich machen, die es brauchen.Ganz bewusst haben wir dabei folgende Schwerpunkte gesetzt:
Kommunikation
Traumatische Erlebnisse beeinflussen das emotionale Erleben eines Menschen auf vielerlei Ebenen. Es beeinflusst aber unter Umständen auch das emotionale Leben im sozialen Umfeld und das ist vielen so nicht bewusst. Soziale Interaktion ist ein sehr feiner Prozess. Wir nehmen unendlich viele Informationen in einer Kommunikation wahr und die meisten Informationen werden nur unbewusst verarbeitet. Wir werden nur aufmerksam, wenn etwas nicht funktioniert und die Interaktion für uns nicht mehr stimmig ist.
Ein Traumahintergrund kann den emotionalen Ausdruck eines Menschen verändern und manchmal einschränken. Als Gegenüber haben wir dann das Gefühl nicht wirklich gehört oder verstanden zu werden. Wir fangen an uns in der Kommunikation mit anderen unwohl zu fühlen.
Dies geschieht, wenn die Abstimmung zwischen Körpersprache, Gesichtsausdruck und den Worten nicht kongruent ist oder wenn ein Mensch scheinbar nicht auf das reagiert, was wir sagen. Je ausdruckstärker das Gesicht eines Menschen ist und je mehr wir in diesem Gesicht eine angemessene Reaktion auf unsere Worte sehen, desto wohler fühlen wir uns mit ihr. Es ist sogar so, dass unser Gefühl von Sicherheit mit der Person davon beeinflusst wird und wir uns in deren Gegenwart mehr entspannen. Haben wir dagegen das Gefühl unser Gegenüber reagiert nicht angemessen auf das, was wir erzählen, fangen wir an uns „komisch“ zu fühlen. Wir vermissen das Feedback im Gesicht unseres Gesprächspartners und fühlen uns alleine gelassen und unverstanden. Wir haben das Gefühl kein „Echo“ zu bekommen und werden unsicher.
Ein „blankes Gesicht“ macht uns Angst, weil wir nicht mehr sehen können, was unser Gegenüber denkt oder fühlt. Hierzu gibt es ein berühmtes Experiment, in dem man sieht, wie verstörend es für Kleinkinder ist in ein „blankes“ Gesicht zu schauen, das sog. „Still-Face Experiment“ von Ed Tronick: Still Face Experiment: Dr. Edward Tronick. Wir alle brauchen dringend das Gefühl, gehört und verstanden zu werden, wir brauchen dringend Reaktionen von unserem Gegenüber. Wie schnell wie verzweifeln, wenn uns diese Reaktion vorenthalten wird, zeigt das Still-Face-Experiment innerhalb weniger Minuten.
Man kann traumatisierte Menschen oft auch daran erkennen, dass ihr Gesichtsausdruck manchmal eingefroren und für sie selbst kaum fühlbar oder modulierbar ist. Dies kann dann zu einer negativen sozialen Feedback-Schleife führen und so kann zu der inneren Einsamkeit noch die soziale Einsamkeit dazu kommen. Wir trainieren Kommunikation, sowohl das Mitteilen der eigenen Ängste, Nöte, Bedürfnisse… wie auch das Zuhören, das Aufeinandereingehen und angemessene Reaktionen zeigen. Traumata entfremden uns oft dem eigenen Körper und die Steuerung unserer Gestik und Mimik muss dann neu gelernt werden.
Trauer und Verlust
Der Verlust eines geliebten Menschen ist unsere größte Angst. Eine nahestehende Person zu verlieren ist für uns alle schwer, der Trauerprozess ist kräftezehrend und kann mitunter Jahre dauern. Über manche Verluste kommen wir nie hinweg, werden diese Menschen immer schmerzlich vermissen.
Wenn Menschen aber plötzlich und gewaltsam zu Tode kommen, ist es für die Angehörigen besonders schwierig, den Verlust zu verarbeiten. Manchmal sind die Todesumstände für die Angehörigen traumatisierend, etwa wenn jemand vor den eigenen Augen bei einem Unfall oder Attentat verstirbt, wenn man seinen Angehörigen bei Bombenangriffen ums Leben kommen sieht oder wenn Menschen einfach in Gefängnissen verschwinden und man keinerlei weiteren Informationen über sie erhält, jahrelang nicht weiß, was ihnen geschehen ist und wo sie begraben wurden. Dann können traumatypische Symptome wie intrusive Gedanken und Flashbacks ebenso auftreten wie übermäßig starke Trauer. Der Trauerprozess dauert oft lange und kann pathologisch werden. Das Trauma bei den Angehörigen kann so ausgeprägt sein, dass es alles andere überschattet und andere Lebensbereiche beeinträchtigt. Helfen kann man diesen Menschen vor allem durch das Aufbauen von sog. Coping-Fähigkeiten und soziale Unterstützung. Beides hilft dabei, die Betroffenen zu stabilisieren. In unserem Programm bringen wir den Frauen bei, durch eine Vielzahl von Maßnahmen (z.B. Atemtechniken, kognitive Restrukturierung, Entspannungsverfahren, Emotionsregulation, Selbstfürsorge etc.) den Verlust zu verarbeiten und sich in der neuen Lebenssituation (im Falle unserer Witwen ist das allein(-erziehend) in einem Flüchtlingslager in einem fremden Land) zurechtzufinden.
Problemlösungsstrategien
Oft sind es gerade Menschen, die unglaubliches überlebt und geschafft haben, diejenigen, die an kleinsten Alltagsproblemen verzweifeln. Das „Im-Zaum-halten“ des Traumas erfordert die ganze Kraft, für den Alltag ist kaum noch etwas übrig. Ein Loch in der Zeltdecke oder ein Riss in der Jeans des Sohnes kann zu Überforderung führen, weil keine Lösungsstrategie entwickelt werden kann.
Wenn wir hier in Deutschland in eine Buchhandlung betreten, steht uns dort sicher zu jeder Zeit und in jeder Stadt eine große Auswahl an Problemlösungs-Selbstverbesserungs-Selbsthilfebüchern zur Verfügung – dennoch sind wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht wirklich besser geworden, was das Lösen von Problemen betrifft – eher im Gegenteil.
„Wenn ich eine Stunde habe, um ein Problem zu lösen, dann beschäftige ich mich 55 Minuten mit dem Problem und 5 Minuten mit der Lösung“, sagte Albert Einstein, und eben diese Fokussierung auf das Problem statt auf die Lösung ist Segen und Fluch zugleich: natürlich müssen wir ein Problem genau verstehen, es von allen Seiten betrachtet und durchschaut haben, um es bestmöglich und schnellstmöglich lösen zu können – aber wir müssen dennoch eben auch an diesen Punkt kommen, an dem wir das Problem loslassen, um uns der Lösung widmen zu können. Genau das versuchen wir in unserem Programm zu vermitteln: die Ursache eines Problems liegt in der Vergangenheit, die Lösung in der Zukunft. Um ein Problem zu bewältigen, müssen wir also nach vorne sehen und uns überlegen, welche Stellschrauben wir drehen, welche Maßnahmen wir ergreifen können, um die Problemsituation zu beseitigen.
Nichtsdestotrotz ist es in der Nachbearbeitung aber auch wichtig, was wir tun können, um eine Wiederkehr des Problems zu vermeiden:
- Können Kontrollmechanismen implementiert werden?
- Gibt es Möglichkeiten, das Problem schon frühzeitig zu erkennen?
- Kann man die Rahmenbedingungen verbessern, damit es nicht wieder zu dem Problem kommt?
- Unter welchen Umständen könnte man schneller reagieren?
Post-Traumatisches Belastungsstörung
Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) gehört zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei geflüchteten Menschen. Zu den Charakteristika gehören u. a. sich aufdrängende, lebendige Erinnerungen an das Ereignis, Albträume, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen. Die Betroffenen vermeiden Situationen und Reize, die an die traumatischen Erfahrungen erinnern. In unseren Camps gibt es Menschen mit unglaublicher Angst vor dem Geräusch von Regen, weil das Prasseln des Regens sie an die Situation erinnert, in der ein Angehöriger vor ihren Augen ermordet wurde, weil es an diesem Tag auch stark regnete. Über die Hälfte der Bewohner in unseren Camps haben große Angst vor lauten, plötzlichen Geräuschen, zucken etwa erschrocken zusammen, wenn etwas auf den Boden fällt, weil jedes knallende Geräusch sofort die Erinnerung an den Bombenhagel weckt. PTBS zieht auch oft Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen nach sich, es erschwert das Assimilieren in einer neuen Situation und es erhöht das Risiko, körperlich zu erkranken.
Die traumatischen Ereignisse, die eine PTBS auslösen, werden in zwei Typen untergliedert:
Typ-1 (kurzfristig) | Typ-2 (langfristig) | |
akzidentell |
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interpersonell |
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Die Traumata der Geflüchteten fallen fast immer in die Gruppe der interpersonellen und langfristigen Traumata – also die, deren Therapie viel Zeit braucht.
Für die Diagnose einer PTBS müssen acht Kriterien erfüllt sein (Falkai & Wittchen, 2015). Bei der Diagnostik einer PTBS im Kindesalter ist zu beachten, dass sich die Symptome auch im Spielverhalten äußern können.
- Die betroffene Person muss einem traumatischen Ereignis ausgesetzt gewesen sein.
- Es müssen Symptome des Wiedererlebens auftreten, die sich auf das traumatische Ereignis beziehen.
- Die betroffene Person zeigt Vermeidungsverhalten gegenüber belastenden Gedanken und Erinnerungen oder gegenüber belastenden Umweltreizen (z.B. Personen, Orte, Aktivitäten).
- Es kommt zu negativen Veränderungen von Gedanken oder Stimmung, die nach dem Ereignis einsetzten oder schlimmer wurden.
- Das Erregungsniveau ändert sich deutlich, z.B. in Form von Wutausbrüchen ohne Anlass, übermäßiger Wachsamkeit (Hypervigilanz) oder Schlafstörungen.
- Die Symptome dauern länger als einen Monat an.
- Die Symptome verursachen bedeutsames Leiden und Beeinträchtigungen.
- Die Symptome sind nicht Folge einer Substanz oder eines medizinischen Krankheitsfaktors.
In unseren Camps erfüllen viele Menschen diese acht Charakteristika (in unterschiedlichen Ausprägungen). Nicht jedes traumatische Ereignis führt zu einer PTBS. In Europa liegt die Wahrscheinlichkeit, im Laufe seines Lebens an einer PTBS zu erkranken bei 0,5%, in den USA bei 7%. In der Dritten Welt oder in Ländern mit Kriegen und gewaltsamen Konflikten, in diktatorischen Regimen, explodieren die Zahlen.
Resilienz
Eben weil Geflüchtete oft schreckliche Erfahrungen gemacht haben, werden sie im öffentlichen Blickwinkel meist als traumatisierte, nicht resiliente Personen wahrgenommen, das heißt, die Sichtweise ist von Anfang an eher defizitär.
Resilienzfaktoren wie Widerstandskraft, Anpassungskraft und Veränderungskraft spielen bei der Verarbeitung und Verstärkung von Traumata aber eine wichtige Rolle. Resilienz ist ein Merkmal einer Person, das sie befähigt, unbeschadet aus großen Belastungen hervorzugehen. In den Camps treffe ich jeden Tag und in jedem Zelt auf Resilienz und wir tun alles in unseren Möglichkeiten stehende, um diese Resilienz unter den Geflüchteten auch weiter zu verstärken.
Es gibt wenige Langzeitstudien darüber, wie die langfristige Entwicklung von Kindern durch Kriege und Flucht destabilisiert wird, es gibt aber Studien über den Zweiten Weltkrieg.
Einige Kriegserfahrungen wirken sich nach diesen Untersuchungen dauerhaft aus:
- schwere Luftangriffe und Kampfhandlungen,
- lange Trennung von der Familie,
- Internierung in Flüchtlings- oder Straflagern,
- Verlust geliebter Menschen durch Gewalt und
- Mangel an Schule.
Auf Dauer waren es der regelmäßige Schulbesuch, die Wiederaufnahme und Stärkung familiärer Bindungen und eine nützliche Arbeit, die es vielen Kindern ermöglichten, wieder eine positive Lebensperspektive zu entwickeln. In der Arbeit mit (jugendlichen) Flüchtlingen ist es deswegen wichtig, den Blickwinkel nicht alleine auf die Faktoren „Trauma“ und Probleme zu beschränken, sondern Stärken, Kompetenzen und Ressourcen, das heißt Resilienzfaktoren, zu identifizieren. Genau das versuchen wir jeden Tag in unserer Arbeit zu tun (die „heilsame“ Wirkung von Schule durfte ich schon tausendfach beobachten) und auch noch einmal ganz speziell in unserem Schmetterlingsprojekt zu fördern, denn lernen ist keine Kindersache, sondern etwas, das uns durch unser ganzes Leben begleitet. Herausforderungen, klar definierte Ziele und sinnvolle Aufgaben brauchen wir alle, um langfristig mental gesund zu bleiben und Resilienz zu entwickeln, die uns in Extremsituationen schützen kann.
Folgende 8 Grundkompetenzen werden der Resilienz zugeordnet:
- Eigeninitiative
- Selbstfürsorge
- Konfliktkompetenz
- Reflexionsvermögen
- Netzwerken
- Veränderungskompetenz
- Planungskompetenz
- Selbstdisziplin
Wir leben in einer Zeit, in der materieller Erfolg, körperliche Fitness und unser Social Media Profil immer noch weit wichtiger ist als unsere mentale Gesundheit. Im Alltag wird sie oft völlig vernachlässigt, wir machen uns keine Gedanken darüber, wie es uns jenseits von Blutwerten, Gewichtstabellen und Schrittzählern geht. Wirkliches Wohlbefinden spiegelt den Zustand unserer körperlichen, psychischen und sozialen Verfassung wider. Fühlen wir uns wohl, sind wir gesund, ausgeglichen und mit uns und der Umwelt im Reinen. Zwischen den drei Wohlfühldimensionen Körper, Psyche und Umwelt gibt es aber zu jeder Zeit Wechselwirkungen, die Einfluss auf unsere Gesundheit haben können. Während wir den Faktor Umwelt nur begrenzt beeinflussen können, sollten wir auf Körper und Psyche umso mehr Fokus legen.