Das Erdbeben im Februar 2023 hat tiefe Verwerfungen mit sich gebracht, die nicht so leicht erkennbar waren wie die zerstörten Häuser, die zerschmetterten Wassertanks, die riesigen Trümmerberge.
Idlib wurde in dieser Winternacht nicht nur zu einer Stadt der Toten, sondern auch zu einer Stadt der Waisen. Offenbar gelang es vielen Kindern sehr viel schneller als den Erwachsenen, sich beim ersten Grollen der Erde ins Freie zu retten oder sie konnten sich wegen ihrer geringeren Größe und ihres geringeren Gewichts oft leichter unter den Trümmern befreien, jedenfalls sind mir in den Monaten nach dem Beben auf den Straßen viele verwaiste Kinder begegnet, die nicht selten ihre komplette Familie in der Katastrophe verloren haben und nun völlig auf sich allein gestellt sind.
Allein ist hier das Schlüsselwort. Kinder, die seit Monaten obdachlos sind, ohne Hilfe, in einem zerstörten Zuhause, in dem ganze Straßenzüge keine Ähnlichkeit mehr mit dem „Davor“ aufweisen, eine dystopische Kraterlandschaft, in der nichts mehr vertraut ist. Sie betteln und stehlen, um nicht zu verhungern. Sie schlafen zwischen Schutt und Müll auf der Straße, atmen Tag und Nacht den latenten Leichengeruch, der über der Stadt liegt, weil immer noch Tote unter Trümmern begraben liegen, die bis heute nicht geborgen werden konnten.
Schnell war klar, dass wir helfen müssen, müssen (!), und dass diese Hilfe weit über Lebensmittelpakete oder Decken hinausgehen muss, doch wie?
Die Kinder brauchen ihr Zuhause, so einfach (und so schwer!) ist es. Und genau das haben wir versucht, umzusetzen. Wir haben Wohnzelte gebaut und Betreuerinnen und Betreuer gesucht, „Eltern“, die mit 5-6 Kindern als Familie zusammenleben, ihnen Geborgenheit und Sicherheit geben, sie wieder Kinder sein lassen und sie bis in ihr Erwachsenenalter begleiten. Eine Mammutaufgabe. Wie bildet man neue Familien? Wie lässt man Liebe wachsen? Was ist alles nötig, damit die Kinder die Traumata der letzten Monate überwinden und sich neu öffnen können? Hier geht es zum Video.
Elem ist eines unserer Embrace-Kinder. Sie ist 7 Jahre alt und völlig allein. Vor dem Beben lebte sie in einer ruhigen Straße in Kafr Ruhin nahe der türkischen Grenze im Bezirk Idlib. Ihre Familie stammte aus Aleppo, doch von dort waren sie schon vor langer Zeit vertrieben worden. In Kafr Ruhin lebte sie mit ihren Eltern, ihrer Großmutter und einer Tante in 2 kleinen Zimmern im zweiten Stock eines Hauses. Sie erinnert sich nicht an viel aus dieser Nacht, vor allem ein lautes Geräusch, wie ein Donnergrollen. Sie haben keinen Strom, konnten also nie Licht anmachen und nachsehen, es war dunkel und dann war es plötzlich noch viel dunkler. Ein schweres Gewicht lag auf Elem und sie weinte, aber mehr weiß sie nicht mehr. Auch nicht, wie lange das alles dauerte. Als sie ausgegraben wurde, war es bereits hell. Die Helfer stellten viele Fragen, wollen wissen, wo ungefähr die Erwachsenen geschlafen haben, aber ihr Haus, ihre Straße existiert nicht mehr, sie erkennt die Welt an diesem Morgen nicht mehr. Die ersten Tage kommt sie bei einer älteren Dame unter, von deren altem Wohnhaus noch ein Raum halbwegs in Ordnung ist und die Mitleid mit Elem hat. Doch nach einer Woche verlässt die ältere Dame Idlib, um zu ihrem erwachsenen Sohn in die Türkei zu ziehen und Elem bleibt allein zurück. Sie hört auf zu sprechen. Sie verlässt das Zimmer nur, um etwas zu essen zu suchen. Sie findet heraus, wann wir wo Lebensmittel verteilen, versucht, ihr Zeitgefühl nicht zu verlieren und die Zeiten nicht zu verpassen. Auch wenn sie von uns Lebensmittel bekommt, spricht sie nicht, beantwortet keine Fragen. Irgendwann bekommt sie schlimme Ohrenschmerzen, beim Verteilen der Lebensmittel sieht sie fiebrig aus. Erst in einem Krankenhaus eine Stunde von Idlib entfernt, beginnt sie zu sprechen, als die Schmerzmittel wirken. Sie hat eine verschleppte Infektion, braucht dringend Antibiotika. „Es tut so weh“, sagt sie immer wieder und meint so viel mehr als ihre Mittelohrentzündung. Sie kehrt nie wieder in den Raum des Schweigens zurück, sie lebt jetzt in unserem Schwalbencamp in einer neuen Familie mit zwei großen Brüdern und zwei kleineren Schwestern, die alle auch lange keine Worte hatten, weil sie ganz ähnliches erlebt haben. Elem geht jetzt in die Schule, zum ersten Mal, und kann mittlerweile ihren Namen schreiben. Sie spricht immer noch nicht viel, und nur wenn sie gefragt wird, aber sie liebt es, wenn ihre neue Mutter ihr etwas vorliest und als sie ihre Schulsachen bekam, habe ich sie zum ersten Mal lächeln sehen.
120 Waisenkinder werden momentan in unserem Embrace-Projekt betreut. So viele Kinder sind in diesem Moment immer noch mutterseelenallein und ohne Hilfe. So viele Kinder brauchen dringend ein neues Zuhause, einen Ort zum Heilen. Mit einer Embrace-Spende können Sie das möglich machen.
Alternativ können Sie auch bei Ihrer Bank einen Dauerauftrag über 33 Euro pro Monat einrichten:
Kontoinhaber: Zeltschule e.V.
IBAN: DE44 7015 0000 1004 3195 29
BIC: SSKMDEMMXXX
Verwendungszweck: Embrace